Geschichte Osteuropas und Südosteuropas
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Staat, Unternehmen und Arbeiterschaft in gelenkten Wirtschaften. Die böhmisch-mährische Industrie zwischen Nationalsozialismus und Volksdemokratie (1938-1950)

Ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt der LMU München Projektleitung: Prof. Dr. Hans Günter Hockerts und Prof. Dr. Martin Schulze Wessel

Projektbeginn: 1. August 2005.

Zu den aktuellen Herausforderungen der Geschichtswissenschaft zählt das Hereinholen Ostmittel- und Osteuropas in eine grenzüberschreitend konzipierte "europäische Zeitgeschichte". In Anbetracht der evidenten Macht der Ökonomie ist es zudem angezeigt, Zeitgeschichte und Wirtschaftsgeschichte wieder stärker miteinander zu verknüpfen. Das Forschungsvorhaben verbindet diese beiden Impulse. Es richtet den Blick auf den böhmisch-mährischen Wirtschaftsraum, der von 1938 bis 1950 in wechselnden internationalen Zusammenhängen einen mehrfachen Gestaltwandel der Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen erfuhr: von der erzwungenen Einbeziehung in den "Großdeutschen Wirtschaftsraum" über das ökonomische Experiment der Volksdemokratie bis zur Eingliederung in den Ostblock.

Hinsichtlich des Wirtschaftssystems Böhmens und Mährens stellt der Untersuchungszeitraum die Übergangsphase vom "Markt" zum "Plan" dar. Sowohl der Nationalsozialismus als auch die Volksdemokratie postulierten die Unterordnung der Ökonomie unter politische und ideologische Zielsetzungen und griffen daher massiv steuernd in die Wirtschaft ein. Hier wie dort blieben die Unternehmen jedoch autonome Akteure an einem weitgehend regulierten Markt. Das Ziel dieses Forschungsvorhabens lautet, das jeweils spezifische Mischungsverhältnis von staatlicher Wirtschaftslenkung und betriebswirtschaftlichem Handlungsmöglichkeiten der Akteure in den Unternehmen zu analysieren.

Das Projekt besteht aus zwei eng aufeinander bezogenen Teiluntersuchungen, die von einem deutschen und einem tschechischen Historiker in enger Kooperation bearbeitet werden sollen: Die geplante Studie von Ph.Dr. Jaroslav Kucera [jarakuc@post.cz] beleuchtet Aufbau, Kompetenzen und Funktionsweisen des nationalsozialistischen und des volksdemokratischen Lenkungssystems; sie setzt insbesondere auf der mittleren Lenkungsebene an, um das von verschiedenen Faktoren beeinflußte Handlungsumfeld der Unternehmen in den gelenkten Wirtschaften zu analysieren. Die geplante Studie von Dr. Jaromír Balcar [balcar@lrz.uni-muenchen.de] fragt nach der realen Stellung und den Handlungsspielräumen von Industrieunternehmen und ihrer Belegschaft innerhalb des jeweiligen Lenkungssystems, um Eindringtiefe und Wirkungsmacht der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft zu bestimmen.

Beide Teilstudien untersuchen das Verhältnis von unternehmerischer Handlungsautonomie und staatlicher Planung im Kontext übergeordneter gesellschaftlicher und politischer Spannungsfelder - zwischen imperial-supranationalen und nationalstaatlichen Lösungsansätzen, zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Tschechen und Deutschen. Damit steht das Projekt im Schnittfeld übergreifender Zusammenhänge und historischer Erfahrungen, zu denen die NS-Ostexpansion und Okkupation, der Konkurrenzkampf zwischen Ost und West nach 1945, übernationale Bauformen der Wirtschaft (in historisch verhängnisvollen, da imperialistischen Varianten), sowie die historische Belastung der ethnischen Spannungen in der Gemengelage Ostmitteleuropas zählen, die in ihren konkreten Wirkungen sowohl auf der ordnungspolitischen Makro- als auch auf der akteursorientierten Mikroebene sichtbar gemacht werden sollen.

Da der Projektaufbau die Zäsur von 1945 überwölbt, werden Brüche und Kontinuitäten der tschechischen Wirtschaftsgeschichte in den Blick genommen sowie komparative und wirkungsgeschichtliche Fragestellungen möglich. Anhand von vier Handlungsfeldern (Produktionsprofil, Personalpolitik, Preispolitik sowie staatliche und betriebliche Sozialpolitik), die sowohl für die staatliche Wirtschaftslenkung als auch für die Unternehmen von zentraler Bedeutung waren, soll vergleichend untersucht werden, wie sich die staatlichen Eingriffe auf die Unternehmen auswirkten, welche institutionellen und funktionalen Kontinuitätslinien zwischen nationalsozialistischer und volksdemokratischer Wirtschaftslenkung bestanden und inwiefern Unternehmen und ihre Akteure als Träger systemübergreifender Kontinuität wirkten.

Literatur:

Balcar, Jaromír und Jaroslav Kucera : L'espace économique de la Bohême-Moravie entre national-socialisme et démocratie populaire (1938-1950): un nouveau projet des recherche de l'université de Munich, in : Hervé Joly (Hrsg.): Les comités d'organisation et l'économie dirigée du régime de Vichy. Caen 2004, S. 39-47.