Geschichte Osteuropas und Südosteuropas
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Andrey W. Doronin (Bonn)

Wie man auf Nationen im Osten Europas kam? Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts

01.06.2023 14:15 Uhr – 15:45 Uhr

Oberseminar der Professur für Geschichte Russlands und Ostmitteleuropas in der Vormoderne

Die Veranstaltung findet per Zoom statt:
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Meeting-ID: 659 7144 5334
Kenncode: 899101

 

Abstract

In ihren ersten Chroniken erscheint Frühe Rus’ als ein politisch und konfessionell homogenes, aber von Regionalismen geprägten Gemeinwesen unter der Herrschaft der Rurikiden. Doch zerfiel sie im 13. Jh. infolge des Mongolensturms. Einer ihrer Teile kam an das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen (die spätere Rzeczpospolita); ein anderer geriet unter die Herrschaft der Goldenen Horde; das Fürstentum Galizien bewahrte seine Unabhängigkeit bis 1320; die Stadt Novgorod sogar bis in die 1470er Jahre usw. Mit dem Untergang der vormongolischen Rus’ zerfiel im 14. und 15. Jh. auch die Kiewer Metropolie. Von einer einheitlichen Welt der Rus’ kann zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr die Rede sein.
Auf die Suche nach neuen Verbindungen orientierten sich meiste Teilfürstentümer und ihre Gefolgschaft nach Polen und Litauen (bzw. später die Rzeczpospolita), andere nach dem Moskauer Reich. Diejenigen orthodoxen Gebiete, die der Goldenen Horde nicht tributpflichtig waren, gelungen (vornehmlich über Polen) unter den Einfluss der lateinischen Welt. Der moskaurussische Zweig der Rurikiden-Dynastie erklärte ein Monopol auf das Erbe der Frühen Rus’ als ihr Lehen und betrachtete sich (seit dem Fall von Byzanz) als Schutzmacht der Orthodoxie; er war dabei bemüht, lateinische Einflüsse aus seinem Herrschaftsbereich fernzuhalten.
Verschiedene Rus’ wurde wohl gezwungen, auf neue Art und Weise ihre neuen überregionalen ethnokulturellen Gemeinschaften historisch zu legitimieren bzw. zu konstituieren. Ob aber das Erbe der vormongolischen Rus’ doch zu ihrer Grundlage wurde, und wie sie das Gemeinsame (Erbe) und das Besondere (seine unterschiedlichen Interpretationen) in ihren neuen Legitimationsstrategien berücksichtigten? Oder ob sie sich gar auf neuen Säulen stützten? Wenn schon, dann auf welchen und worin unterschieden sie sich grundlegend voneinander? Welche Faktoren und kulturellen Vektoren beeinflussten die Bildung neuer Überregionalismen verschiedener Rus’ in der Frühneuzeit? Letztendlich inwieweit sie sich in das neue (frühmoderne) gemeineuropäische historische und kulturelle Koordinaten-System eingebaut haben bzw. Potential gekriegt haben, sich zu modernen Nationen zu entwickeln?

Das zentrale Anliegen des Projekts war es, zwei dominante anachronistische Narrative einer systematischen Revision zu unterziehen: zum einen das Konzept von der ostslawischen Einheit, d.h. von einem auf einen Ursprung zurückgehenden primordialen Volkskörpers, und zum anderen das zur Zeit der Aufklärung entstandene und in der Historiographie noch vorherrschende Paradigma, dem zufolge ohne vorausgegangene Staatsbildung keine moderne Nation entstehen konnte.