Geschichte Osteuropas und Südosteuropas
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Nikolas Ender (Münster)

Konversion und Selbstverortung: kalmückische „Neugetaufte“ im Stavropol des 18. Jahrhunderts

22.06.2023 14:15 Uhr – 15:45 Uhr

Oberseminar der Professur für Geschichte Russlands und Ostmitteleuropas in der Vormoderne

Die Veranstaltung findet per Zoom statt:
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Meeting-ID: 659 7144 5334
Kenncode: 899101

Abstract

Seit 1737 trieb die zarische Regierung ein – für die Kolonialgeschichte bedeutsames – Projekt voran: die Gründung der Stadt Stavropol (heute Toljatti). Nach der Vorstellung Annas I. sollten in der am rechten Ufer der Wolga gelegenen Siedlung eine Gemeinschaft christianisierter Kalmücken angesiedelt werden; ein buddhistisch lebendes Nomadenvolk, deren Weidegebiete allmählich seit dem 17. Jahrhundert in das Territorium des Russländischen Imperiums inkorporiert worden waren. In Stavropol sollten (zwangs-)christianisierte Familien – nach dem Plan der russländischen Elite – von dem buddhistischen Einfluss ihres Herkunftsmilieus separiert, unter Anleitung christlicher Bauern mit Praktiken sesshaften Lebens betraut und mehr oder minder gewaltsam in der Glaubenswelt der russischen Orthodoxie verankert werden. Die Genealogie solcher (Zwangs-)Umsiedlungen lässt sich bis in die Regentschaftszeit Ivans IV. zurückverfolgen. Anders als vorherige Missionierungsversuche – allerdings – verfolgte die russländische Regierung mit der (Zwangs-)Umsiedlung der christianisierten Kalmücken nach Stavropol einen viel umfassenderen Missionierungsanspruch. Denn: Anders als die Kampagnen unter Ivan IV. griffen die Missionare des 18. Jahrhunderts radikal in die Lebensweise der über Jahrhunderte lang nomadisch lebenden Kalmücken ein; versuchten sie zu christianisieren, sesshaft zu machen und sie so zu „zivilisieren.“

Das vorzustellende Projekt untersucht die soziale, wirtschaftliche und religiöse Ordnung, die sich aus diesem gewaltsamen Eingriff in das nomadische Leben buddhistisch kalmückischer Gemeinschaften etablierte. Wie gestaltete sich das Leben der kalmückischen Bewohner Stavropols? Woran glaubten sie? Und wie wirtschafteten sie? Indem es auf Konzepte der historischen Anthropologie rekurriert, untersucht es die alltagshistorischen Zusammenhänge der auf dem Stadtgebiet lebenden „Neugetauften“ und geht Fragen der Zugehörigkeit und Selbstverortung nach, die sich in dieser Ordnung situativ re-perpetuierten. Hierzu greift es auf ein Spektrum an Primärquellengenres zurück, die in ihrer Verwobenheit Hinweise über die Alltagsgeschichte der Stadt erwarten lassen; Gesetzestexte, die das städtische Leben zu regulieren versuchten; Petitionen, in denen sich „Neugetaufte“ in persönlichen und gemeinschaftlichen Anliegen an die Regierung wandten und – dies sei hier besonders hervorzuheben – Akten des von kalmückischen „Neugetauften“ selbstverwalteten Gerichts „Zargo“. Indem es russische und kalmückische Dokumente für das 18. Jahrhundert in den Blick nimmt, rekonstruiert es koloniale, geschlechterspezifische und migrationsspezifische Zusammenhänge, die für ein Verständnis kulturellen Lebens jenseits des politischen Zentrums als unabdingbar erscheinen.