Geschichte Osteuropas und Südosteuropas
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Zu Land und auf der See. Medizinische Geographie im Russischen Reich (1770-1870)

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Russische Wissenschaftsstiftung (RSF) unterstützen ein gemeinsames Forschungsprojekt zur Medizingeschichte unter der Leitung von Prof. Dr. Elena Višlenkova (Nationale Forschungsuniversität Higher School of Economics Moskau) und Prof. Dr. Andreas Renner (Ludwig-Maximilians-Universität München). Das Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren (2019-2021) und wird durchgeführt von einer transnationalen Forschungsgruppe aus zwei Professoren, Postdoc-Forschern und Doktoranten.

Ziel des Projekts ist die Untersuchung der Geschichte von Produktion und Verbreitung medizinisch-geographischen Wissens und der damit zusammenhängenden Geschichte der Gesundheitsversorgung im Russländischen Reich aus transnationaler sowie lokaler Perspektive.

Wird davon ausgegangen, dass gleich anderen Imperien die Medizin in Russland eine erhebliche Rolle bei der Ordnung, Stabilisierung und dem Verständnis des eigenen Imperiums spielte, so verbleibt die Frage der Umsetzung weiter offen. Brachte sie den imperialen Untertanen Gesundheit oder wurden sie durch die neuen Hygieneregime unterdrückt? Oder ging es eventuell um die effektive Nutzung von Ressourcen an den imperialen Peripherien und Projekten zur Verbesserung der Umwelt?

Als Startpunkt für die Beantwortung dieser Fragen dient das zeitgenössische Wissens- und Nutzungskonzept der Medizinischen Geographie. So definierte man im Untersuchungszeitraum Krankheit als ein Ungleichgewicht zwischen Lebewesen und Umwelt. Um universelle Prophylaxemethoden, Heilung für Krankheiten oder Schutzmöglichkeiten vor Seuchenepidemien zu finden, untersuchten Mediziner sowohl geografische Parameter als auch Menschen an der imperialen Peripherie Russlands. Das dadurch gewonnene medizinische Wissen wurde in zahlreichen Dokumenten fixiert, die es nun zu analysieren gilt: Arztnotizen, Patientengeschichten, Anweisungen von Medizinräten, Berichte von Ärztekommissionen, topografische Beschreibungen, statistische Berichten, Memoiren und öffentliche Beiträge in Zeitschriften, Lehrbüchern und Vorlesungen. Der neue medizinisch-geografische Diskurs, welcher Gesundheit und Krankheit in den Kontext der Umwelt implementierte, entwickelte sich durch Interaktion gelehrter Ärzte und russischer Verwaltungsbeamter mit "traditionellen" medizinischen Kulturen an den Peripherien und durch regelmäßigen Austausch mit Wissenschaftlern aus anderen Imperien.

In Russland waren die Jahre zwischen 1770 und 1870 eine Zeit der imperialen Expansion, aber auch der inneren Konsolidierung. Die medizinische Versorgung wurde immer umfangreicher; Ärzte gewannen an Einfluss als Experten und fanden Einsatz in allen Teilen des Reiches und den umliegenden Meeren. Vor diesem Hintergrund kombiniert das Projekt Makro- und Mikroanalysen. Die ProjektteilnehmerInnen untersuchen hier den transnationalen bzw. interimperialen Transfer von medizinischem Wissen zwischen gelehrten Ärzten sowie gemeinsame imperiale Probleme (z.B. Epidemien). Dieser breit angelegte Forschungsansatz erlaubt somit eine Betrachtung Russlands im Dialog und Interaktion mit benachbarten Seemächten und verbindet die Medizin mit anderen Wissenschaftsdisziplinen (Mineralogie, Geographie, Klimatologie, Meteorologie). Auf lokaler Ebene planen die ProjektteilnehmerInnen, die Wirksamkeit postkolonialer Ansätze zu testen, um herauszufinden, wie indigene Heilpraktiken und Vorstellungen von Krankheit oder Gesundheit die „westliche“ Medizinwissenschaft prägten, die von Vertretern des imperialen Zentrums praktiziert wurde. Ebenso, wie in anderen Imperien, trugen die russischen Ärzte mit ihrem medizinisch-geographischen Wissen zur Konzeptualisierung räumlicher Vielfalt des Russischen Reiches bei.

Gleichzeitig veranschaulicht der russische Fall die „Imperialität“ der Medizin auf eine im Vergleich zu anderen Imperien differente Art und Weise und erweitert somit unser Verständnis für die Funktionsweise von Imperien. Vermutlich war die Medizin im zaristischen Russland nicht nur deshalb imperial, weil sie sich auf entfernte Peripherien ausdehnte, sondern wurde es auch, weil Medizinspezialisten und ihre Erfahrung dazu beitrugen, diese Peripherie zu kontrollieren und als etwas "anderes" zu definieren.

Link zur russisch- bzw. englischsprachigen Projektwebseite