Die Entdeckung der Muttersprache oder wie man spricht, so schreibt man? Normierungsstrategien ‚kleiner‘ Sprachen in Europa: Das Okzitanische, Jiddische und Belarusische
Kurzbeschreibung
(Habilitationsprojekt Martina Niedhammer, Stand April 2024)
Das Projekt untersucht exemplarisch den Normierungsprozess dreier „kleiner“ europäischer Sprachen – Jiddisch, Okzitanisch und Belarusisch – aus kulturgeschichtlicher Perspektive interdisziplinär an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft und Philologie. Die Auswahl der Fallbeispiele wirft ein Schlaglicht auf die Vergleichbarkeit ost- und westeuropäischer Prozesse des nation und region building, bei deren Erforschung dichotome Sichtweisen, wie die Annahme geographisch zu verankernder Formen des Nationalismus (Hans Kohn) oder das Rückständigkeitsparadigma (Ernest Gellner), noch immer nachwirken. Der Zeitraum der Untersuchung erstreckt sich dabei von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre und damit über ein knappes Jahrhundert.
Diese relativ lange Zeitspanne gliedert ein thematischer Zugriff; als Leitfaden dienen strukturelle Gemeinsamkeiten in den drei untersuchten Standardisierungsprozessen. Ausgangspunkt ist die prekäre Situation „kleiner“ Sprachen, die scheinbar in scharfem Widerspruch zu den öffentlichkeitswirksamen Nobelpreisen für den okzitanisch schreibenden Frédéric Mistral (1904) und den jiddischen Autor Isaak Bashevis Singer (1978) steht, mit denen explizit Literaturen in Minderheitensprachen gewürdigt wurden. Die Verleihung des Nobelpreises an Svetlana Alexijewitsch 2015 wurde in der Öffentlichkeit hingegen immer wieder von der (meist auf Unkenntnis der belarusischen Verhältnisse beruhenden) Frage begleitet, weshalb eine Autorin als Belarusin ausgezeichnet werde, wenn sie nicht in ihrer Landessprache, sondern auf Russisch schreibe. Daran anknüpfend untersucht das Projekt die Techniken, auf die Sprachaktivsten im Zuge der Normierung „ihrer“ „kleinen“ Sprache zurückgriffen: Sammeln, Ordnen und Schreiben, bevor die Akteure dieses Prozesses in den Blick genommen werden: Analysiert wird ihre Rolle in Wissenschaft und Presse sowie ihre Interaktionen mit ihrem imaginierten und faktischen Publikum. In einem weiteren Schritt stehen die Konzepte im Mittelpunkt, die die Sprachaktivisten entwickelten, um das Prestige „ihrer“ Sprache zu steigern und sie zugleich von ihren „großen“ Nachbarn abzugrenzen: Dialekt versus Sprache, Vorbilder und Gegenbilder, Vergegenwärtigungen des Vergangenen. Die Tatsache, dass alle drei im Projekt untersuchten Sprachen bis heute nicht verbindlich standardisiert und in ihrem Fortbestand nicht zuletzt auch deshalb erheblich gefährdet sind, wirft schließlich die Frage nach dem „Scheitern“ der „Spracherneurer“ auf: Inwieweit ist dieses für das (Selbst-)Verständnis „kleiner“ Sprachen konstitutiv und worin besteht sein analytischer Mehrwert für eine historische Arbeit?