Geschichte Osteuropas und Südosteuropas
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Habilitationsprojekt (abgeschlossen): Russland als Imperium im 18. Jahrhundert. Imperiale wie koloniale Konzepte und Praktiken der russländischen Elite

Dr. Ricarda Vulpius

In der Habilitationsschrift geht es um die zentrale Rolle des 18. Jahrhundertsfür die Entwicklung des Russländischen Reiches zu einem Imperium: Es ist das Jahrhundert, in dem sich die Kluft zwischen einem Imperiumals analytischer Erkenntnis-und einem solchen als Quellenkategorie schließt.In dieserZeitspanne, eingerahmt von der Zarenherrschaft Peters I. und KatharinasII., vollzog sich durch die Übernahme des zunächst dichotomischen Konzepts von Zivilisiertheit und Barberei aus dem ‚westlichen Europa‘ein tiefgreifender Wandel tradierterDenkweisen und Praktiken der russländischen Elite, der erst jetzt in der Herausbildung eines umfassenden imperialenBewusstseins resultierte.Dieser Wandel drückte sich –so die wichtigsten Thesen der Arbeit –erstensdarin aus, dass Peter I. und sein Gefolge mit der Übernahme des Paradigmas der Zivilisiertheit einen Zivilisierungsdiskurs gegenüber nicht-christlichenethnischen Gruppen im Süden und Osten anstieß, für den die eigene, russische sowie akkulturierte russländische Bevölkerung (auch die bäuerliche) als Modell Pate stand.Zweitensblieb es nicht bloß beim Diskurs, sondern der Wandel schlug sich beginnend mit Peter I., intensiviert unter den Kaiserinnen Anna und Elisabeth und nur noch graduell gesteigert unter Katharina II.,auch in einerPolitikder ‚Zivilisierung‘nieder. Diese ‚Zivilisierungs’politik bedeutete drittensim Kontext der russländischen Tradition von Staatsbildung den Beginn vielfältigerStrategien, nicht-christliche ethnische Gruppenmit dem Ziel verändern zu wollen, sie mit dem Titularvolkzu ‚verschmelzen‘oder sie mindestensso nah wie möglich an dieses heranzuführen. Mit dieser Analyse aktiver russländischerAkkulturierungs-und partiellen Assimilierungspolitikplädiert die Arbeit daher für die Modifizierung bisheriger Annahmen zu den Anfängen erster Russifizierungsstrategien und Praktiken gegenüber Nicht-Russen im Süden und Osten des Reiches.Im Zuge der Akkulturierungs-und partiellen Assimilierungsabsichten mündete der Wandel imperialer Denkweisen und Praktiken teilweise in eine Herrschaft mit kolonialem Charakter. Damit plädiert die Arbeit viertensdafür, russländische Herrschaft schon für das 18. Jahrhundert, wenn auch zeitlich und geographisch begrenzt, gegenüber der komparativenKolonialismusforschung zu öffnen.Und fünftenswird in der Studie als treibende Kraft hinter dem Wandel zu kolonialer Politik die russländische Rezeption einzelner Narrative der Aufklärung identifiziert.Mit dieserAnalyse soll daher ein Beitrag dazu geleistet werden, das Zarenreich aus der Perspektive der Historiker in die weltweite Forschung zum umstrittenen Zusammenhangvon Kolonialismus und Aufklärung einzubeziehen.Die Ergebnisse der Arbeit werden in der Schlussbetrachtung in die vergleichende Imperien-und Kolonialismusforschung zum 18. Jahrhundert eingebettet. Dabei wird gezeigt, dass von einem exklusiven ‚Sonderweg‘ des Zarenreiches im 18. Jahrhundert keine Rede seinkann. Vielmehr
offenbaren Diskurse und Praktiken der Zivilisierung, Akkulturierungund Assimilierungzahlreiche Parallelen zu Denkweisen und zum Verhalten anderer europäischerKolonialreiche.Als russländischeSpezifika wird der frühe Ursprung der russländischen Assimilationsideeherausgearbeitet, deren verhältnismäßig späte Koppelung an eine russländischeZivilisierungsabsichtund die Gründe, warum trotz des Wandelsvon Konzeptenund Praktiken das ganze 18. Jahrhundert sowohl am Akkulturierungs-als auch am Zivilisierungsdiskursfestgehalten wurde.